In meinem Kopf passiert sehr viel, auch wenn ich einfach nur da zu sitzen scheine. Die Gedanken purzeln übereinander, wechseln sich ab, verknoten und überschneiden sich um dann wieder getrennter Wege zu gehen. Ich bin ein sehr kopflastiger Mensch, der aber sehr ruhig ist und dem Umfeld nur selten die Möglichkeit bietet, sich mit einzubringen.
Meine Kindheit war geprägt von Klavierspirken, malen und 10-Finger-tippen. Ich war nie so der draußen-Mensch. Ich bin auch nicht extrovertiert. Ich lasse selten jemand an meinen spontanen Gedanken teilhaben, da sie so schnell durch meinen Kopf poltern, dass so schnell niemand sprechen könnte. Ich würde nur halbe Sätze im atakkato von mir geben und ständig das Thema wechseln.
„Der Kalender braucht ein neues … An die Post-Its muss ich … Das Gold könnte gut zu … Ganz wichtig, die postkarte für … Das Ticket muss ich morgen … Rechnung schreiben … Ach ja, Überweisung … Ich wollte noch Simone … Und Carina … Toll wären auch Notizbücher … Der Workshop im Februar …“ ganz ehrlich. Will wirklich jemand, dass ich diesen ganzen Wust ausspreche? Eher nicht! Also bändige ich meine Gedanken dort, wo sie sich eh schon tummeln: hinter meiner Stirn.
Genauso ruhig wie ich verbal bin, erscheine ich offenbar auch beim arbeiten. Denn ich wurde gefragt ob ich schon immer so langsam gearbeitet hätte. – Doch das finde ich, ehrlich gesagt, unfair. Sehr oft bin ich sogar schneller als andere, auch wenn meine Maus sich nicht hektisch über den Bildschirm bewegt und Objekte mit highspeed hin und her schiebt.
Während ich den Bildschirm ansehe verändert sich das Dokument vor meinem inneren Auge mehrmals pro Sekunde gänzlich. Das Layout einer Webseite verschiebt sich von Desktop- zu Handyvariante, die Farben wechseln von dunkel zu pastell und Bilder werden ausgewechselt ohne dass ich meine Maus auch nur anrühren muss. Abstände korrigieren sich und der ganze Look eines Flyers kann von klassisch zu romantisch morphen. – So kann ich 5-10 Minuten regungslos vor dem Bildschirm sitzen und das Dokument in Photoshop anstarren – und dann, wenn die 3-10 Parteien in meinem Kopf sich einig geworden sind, setzen meine Finger erst um, was vor meinem inneren Auge Gestalt angekommen hat.
Ich habe ein sehr, sehr ausgeprägtes Vorstellugsvermögen. Daher muss ich selten Sachen wirklich ausprobieren um zu wissen wie sie wirken. Das ist in 2D genauso wie zB in der Architektur. Ich sehe einen Plan und sehe mich vor meinem inneren Auge durch die Zimmer des Hauses laufen, das gerade geplant wird.
Mich nervt hektisches herumgeklicke, -verschiebe und -gelösche. Wenn ich eine Ebene aufziehe, dann hat die meist die richtige Größe, die passenden Abstände und die Effekte, die sie auch später haben soll – denn ich habe es ja im Kopf geplant und mindestens 20 Versionen imaginär schon mit mir selbst besprochen.
So ist das in Photoshop, in CAD und auf dem Papier. Genauso wenig wie ich munter drauf los plappern kann, kann ich nicht einfach vor mich hin zeichnen und hoffen, dass etwas zielführendes dabei herum kommt.
Die befreiende Wirkung eines weißen Blattes Papier
Ich kann voller Zufriedenheit ein weißes Blatt Papier vor mir auf dem Tisch ansehen ohne mich dabei beengt zu fühlen, wie es vielen anderen geht. In den vielleicht 5 Minuten die ich reglos davor sitze, spielen doch in meinem Hirn ganze Spielfilme mit Szenen ab, die ich zeichnen könnte. Da wird dann vor und zurück gespuhlt, werden die Protagonisten neu eingekleidet und aus dem Ritt in der Kutsche wird eine Reise auf dem Segler…
Wenn ich mich dann entschieden habe, kommt der erste Strich. Manchmal fangen in bestimmten Bereichen eines Bildes neue Filme an, dann starre ich diese wieder einige Minuten an, bis ich weiß, was ich da zeichnen will. Meist geht es dann recht flott, weil ich ja nur noch abzeichnen muss, was ich ja schon vor meinen Augen sehe.
Niemand ist perfekt !
Natürlich muss ich auch Konstruktionslinien zeichnen und eine gerade Linie wird ohne Lineal nichts, aber die ganze Szenen- und Formfindung ist meist zu 90% abgeschlossen bevor ich den Stift aufs Papier setze.
Unter Druck? Oh je!
Wenn ich mich durch andere Personen genötigt fühle sofort und „total engagiert“ die ersten Linien auf das Papier zu setzen wird das NIE was. Wirklich nie. Um mir in meiner Hilflosigkeit zu helfen und so zu tun als könne ich diesen Anforderungen gerecht werden ziehe ich manchmal einen Rahmen um das Blatt damit mein Kopf ein paar Minuten hat um schon mal die ersten dummen Konzepte zu verwerfen.
Das gleiche passiert auch in Photoshop oder Indesign. Ich kann eine Homepage nicht wirklich gut in einem Programm entwickeln. Die Arbeit passiert im Kopf. Da ändern sich Schriften und Bilder und Farben, während Photoshop noch gar nicht offen ist. Die Umsetzung in dem Programmen erfolgt meist nur zur pixelgenauen feinjustierung und eben um Auftraggebern und Kollegen zu zeigen, was da in meinem Kopf los ist. Wenn ich für mich selbst etwas gestalte, passiert das meist nur auf Briefmarken-Format mit 10 strichen als gedankenstütze ,damit ich keinen wichtigen Punkt vergesse.
Erst denken dann bauen!
Genauso stehe ich gerne schweigend in Räumen, die ich umgestalten soll oder schaue mir Pläne stumm an während Kollegen hektisch virtuelle Wände von hier nach da schieben um eine Raumwirkung auszuprobieren. – Architektur ist da allerdings in der Tat aufwändiger und ich habe da noch keine 20 Jahre Erfahrung wie mit dem Bleistift oder den Grafikprogrammen. Grundrisse muss ich tatsächlich noch öfter neu konzeptionieren weil die Ebenen dann doch nicht zu den Schnitten und Ansichten eines Hauses passen oder die Flure doch mal wieder zu lang geworden sind.
Der Fluch der guten Vorstellungskraft
Nichts desto trotz passiert viel vor meinem inneren Auge wovon die umstehenden nichts mitbekommen. So bekomme ich dann auch mal zu hören ich würde ja so langsam arbeiten. Klar. Bei mir fliegen keine Ebenen und Fenster über dem Bildschirm und machen Purzelbäume. Das machen sie ja schon in meinem Kopf und werden dann ein mal da hin gezogen wo ich die haben will.
Zu viele Vorab – Gedanken: Sonderling ?!
Solche Aussagen sind es dann, die zum Frühstück fallen gelassen werden und die mich auch nachts noch so sehr beschäftigen, dass ich abends fast heulend vom Schreibtisch aufstehe und bis drei Uhr nachts wach liege und Texte wie diesen hier auf dem Handy tippe . Solche Vorwürfe, die implizieren, ich sei faul und lahm, treffen mich sehr und ich frage mich dann immer wieder, was kaputt ist an mir. Warum bin ich nicht laut und hektisch und aufgedreht wie alle um mich rum? Bin ich deswegen depressiv, krank, ein Eremit ?! Oder bin ich doch faul und egoistisch, weil ich mir nicht die Mühe mache meinem Umfeld alle meine Gedanken-Entwürfe pixelgenau und in Farbe vorzustellen?
Ich weiß es nicht und ich kann es mir nicht recht vorstellen. Wäre ich in der Tat so langsam hätte ich doch nicht mein Studium in Regelstudienzeit gemacht, wöchentlich bis zu 35h Fachschaftsarbeit geleistet und 20h im Studentenjob meine Miete verdient? – eine Verteidigung wollte ich hier auch gar nicht schreiben (sie wird eh nicht von der entsprechenden Person gelesen), aber auch ein Kopfmensch braucht manchmal ein Ventil und vielleicht helfen meine Gedanken ja einer Person, der es ähnlich geht wie mir.
Die Aussage „erst denken, dann handeln“ ist bei mir (gibt es noch mehr von meiner Sorte?) mehr als nur ein Leitspruch, wie es scheint. Jeder Versuch, meine Art zu ändern, schlug fehl.
Stell dir vor, du zeichnest immer mit Tusche. Du fängst nicht auf dem Karton an, wild mit der Feder die Form zu finden. Du machst dir Skizzen, ziehst zarte Linien mit dem Bleistift und setzt drei mal an bevor du den ersten Strich ziehst. Und genauso mache ich das auch am PC, nur dass all die Entwürfe ganz ressourcenschonend in meinem Kopf gezeichnet und verglichen werden. – Das macht es mir auch so leicht, allein zu arbeiten und macht es so kompliziert, wenn ich mitten in der Planungsphase einem anderen den aktuellen Stand zeigen soll. Das darstellen meiner gedanklichen Unordnung mitten im Entwurfsprozess setzt mich derartig unter Druck, dass da nichts Gutes bei rum kommt. – Wie andere Menschen es schaffen, so zu planen und zu entwerfen dass jeder sofort sieht was sie gerade denken und ausprobieren ist für mich außerordentlich bewundernswert und mir völlig unbegreiflich zugleich.
Bei mir ist die Planung (leider?) meistens im Kopf und nur die Umsetzung wird sichtbar. Vor allem wenn ich auf einem Gebiet mehr und mehr Erfahrung habe.
Wie ist es bei dir? Fliegen da die Striche und Fenster nur so über den Bildschirm? Füllen sich bei dir die Papierkörbe mit verworfenen Zeichnungen oder passiert bei dir auch all das im Kopf?
So, jetzt ist drei Uhr und die Gedanken haben mich einfach so lange wach gehalten. Wenn du das hier liest ist bestimmt schon wieder Tag!
Alles liebe
Julia
Hallo Julia,
Danke für den großartigen Artikel! Ich bewundere diese Ruhe und Vorstellubgskraft. Ich benötige leider meist eine Kombination. Also ein paar Experimente, die meine Vorstellung auf ein Papier übertragen, ob es auch wirklich aussieht und funktioniert. Aber ich bin generell eher ein praktischer Mensch, dennoch ist nachdenken und Planung im Kopf wichtig, dafür sollte man sich immer alle Zeit nehmen. Deswegen ist man keineswrgs langsam oder faul, es ist effizient, wenn man einen Plan hat und nocht unmengen Zeit mit Fehlversuchen verbringt. Lass dich da nicht unterkriegen!
Hey Maike,
danke für deinen lieben Kommentar! Ich glaube manchmal, ich hätte gerne so eine Anzeige an meiner Stirn, die anzeigt, dass in meinem Gehirn gerade etwas passiert und ich nicht einfach nur auf Standby bin… Was die Leute nicht verstehen oder sehen, ignorieren sie oft einfach ^^ Aber was solls, man kann die anderen ja nicht ändern ^^
Sehr coole Idee…. vielleicht sollte man so ein T-Shirt nutzen: ich denke, bitte nicht stören. Oder Tischkarten selber schreiben, wie die Türschilde ;) ich finde die Idee super! Da könnte man was draus machen….
Hey Julia,
ich kann das SO! gut nachvollziehen! Ich kann auch meine Gedanken nicht gut strukturieren und für Andere übersichtlich gestalten. Bei mir fliegt auch alles durcheinander und ich mache wilde Skizzen, die wahrscheinlich nur ich verstehe, aber das reicht ja auch.
Ich hasse es, genau beziffern zu müssen, was ich wann, wie tue. Berichtsheft führen war einfach das Schlimmste in der Ausbildung. Ich pack die Dinge an, wie sie kommen und vor allem auch wie sie mir in den Kopf kommen. Wenn ich dabei versuche erst mal nieder zu schreiben, was ich da eigentlich tue, verwerfe ich den Gedanken während dessen schon wieder, weil das Momentum einfach flöten geht.
Schön, dass es nicht nur mir so geht! Aber wir kreativen Chaoten bringen die Welt auch weiter! Wir sind es, die keine Einheitsmasse produzieren, sondern neue Ideen entwickeln und sie neu visualisieren und auch für andere zugänglicher machen – im Endergebnis.
Liebe Grüße,
Ronja
Schön, dass wir nicht allein sind, Ronja. Ab und zu braucht man einfach die Gewissheit, dass da auch noch andere sind, die sehr ähnlich ticken :)
Wow, danke für diesen Artikel, es ist gut zu wissen dass sich andere Menschen auch solche Gedanken machen :) Ich kriege auch gerne mal mitten in der Nacht solche nachdenklichen Anfälle – immer gut sie loszuwerden! Ich habe zwar kein Problem damit, einen Entwurf zu kritzeln, aber mir fällt es dagegen oft schwer, meine Ideen richtig in Worte zu fassen. Da habe ich dann ein tolles Konzept für etwas, und kriege davon, wie durch einen Trichter, nur 4 verwirrende Worte raus, und wundere mich dann wieso mein Gegenüber nicht so enthusiastisch reagiert wie ich in meinem Kopf! :)
Ich hab auch das Gefühl, dass mein mündliches Sprachzentrum mit dem schriftlichen oder gedanklichen nicht kooperieren mag ^^